von Linda Lorenz
Es gibt ein Licht, das uns in jeder Lebenslage vor Entgleisungen bewahrt: die Würde. Diese zu erkennen und zu bewahren benötigt ein Bewusstsein für jene. Dieses Bewusstsein kann unsere Seele sowohl vor Verletzungen schützen als auch zum Wachsen motivieren.
Beginnen wir mit einem Szenario: Angenommen zwei Autos überrollen uns – ganz hypothetisch, im übertragenen Sinne – und nun liegen wir auf der Straße, blutend, bewegungslos, doch die VerursacherInnen begehen Fahrerflucht. Nun liegen wir auf dem Asphalt, allein, die AutofahrerInnen übernehmen keine Verantwortung für ihre Tat. Was tun? Was bleibt uns jetzt? Was bleibt uns, wenn wir entwertend behandelt werden? Oder wenn im Außen alles in sich zusammenstürzt über das wir keinerlei Kontrolle haben? Es muss also etwas in uns selbst sein, etwas das uns aus unserem Inneren heraus hält, uns zum Weiterleben ermutigt und unsere Seele stärkt und schützt. Die Psychologie, die Geistlichen und Spirituellen sprechen von der Wichtigkeit der Verantwortung für das eigene Handeln, von Selbstliebe, Selbstwert, Aufrichtigkeit, Respekt, Liebe, Mitgefühl etc. Doch das Fundament und die Kraft, die all diese Aspekte vereint und zusammenhält scheint doch die Würde zu sein.
Bewusstsein des eigenen Wertes
Der Duden bezeichnet „Würde“ als „Bewusstsein des eigenen Wertes“. Für die Umsetzung der Würde betont Kant die Achtung voreinander als fundamentales Werkzeug in allen zwischenmenschlichen Beziehungen. Sowie die „sittliche Autonomie“ eines jeden Menschen basierend auf der Vernunft. Gerald Hüther sieht die Würde eines Menschen darin sich nicht mehr gegenseitig zum Objekt zu machen. Wenn Menschen andere Menschen benutzen, sei es in der Arbeitswelt, im Schulsystem oder in Beziehungen dann machen sie einander zu Objekten. Es wird dabei vergessen, dass jeder Mensch ein Individuum ist mit Wünschen und Bedürfnissen und eine Seele hat, die in diesem Leben Raum zum Wachsen und atmen benötigt.
Zurück zu unserer kleinen Metapher: Was kann uns nun auf dem Asphalt liegend retten? Die innere Würde uns selbst gegenüber ist es, die uns wieder gerade stehen lässt, ganz egal wie andere mit unserer Würde umgegangen sind. Wir rappeln uns auf, wir fragen im Außen nach Hilfe, wir machen uns nicht abhängig von denjenigen, die uns überfahren haben sondern können aus eigenem Antrieb sagen: das lassen wir nicht mit uns machen. Wie machen uns in dem Fall nicht zum Objekt, um auf Hüther zurückzukommen, sondern erkennen unsere Subjekthaftigkeit und die Macht über uns selbst. Wie ein Schutzmantel schließt sich diese Erkenntnis um unsere Seele.
Die Seele schützen
Situationen wie diese machen uns bewusster für unsere eigene Würde, so plädiert Psychoanalytikerin Luise Reddemann darauf, uns unsere Würde zurückholen: „Es geht in diesem Prozess der Selbstannahme oft darum, dass Patienten sich vom Hass derer, die ihnen geschadet haben, befreien – das heißt, dass sie sich dadurch auch von ihrem Selbsthass befreien.“ Die Notbremse zu ziehen scheint hierbei also ein wichtiger Impuls, in dem Fall bedeutet dies, die Distanz zu Menschen oder Situationen zu wahren, die uns entwürdigend behandeln.
Hüther geht noch weiter wenn er sagt, Würde gehe stets mit Bedürfnissen und Wünschen einher. Wenn wir nun am Boden liegen, von zwei Autos überfahren, die Insassen haben sich aus dem Staub gemacht, dann entwickelt sich, wenn wir uns unserer Würde bewusst sind, vermutlich der Wunsch aufzustehen und weiterzugehen. Es entsteht das Bedürfnis so nicht mehr weiterzumachen, uns nicht mehr zum Objekt machen zu lassen, sondern uns aufzurappeln und Verantwortung dafür zu übernehmen, dass wir uns haben würdelos behandeln lassen. Unser Bedürfnis führt nun zu der Entscheidung, uns in Zukunft unsere Würde zu bewahren.
Ehrlichkeit als Basis
Ähnlich in zwischenmenschlichen Beziehungen: Entwertungen, Gleichgültigkeit, andere für die eigenen Bedürftigkeiten ausnutzen – es gibt auch hier wieder den der entwürdigt und den der sich entwürdigen lässt. Beide sind verantwortlich für ihr Verhalten. Das Bewusstsein der Würde kann uns aus solchen Verstrickungen befreien und befreit gleichzeitig unsere Seele. Wenn in Beziehungen der andere versucht sich einen Vorteil zu verschaffen und man sich dagegen wehrt und dieser Kreislauf fortgeht, dann entwickeln wir uns als Menschen nicht weiter, so Hüther. Ein Wert, der dafür unabdingbar scheint, ist die Ehrlichkeit. Würde zu bewahren benötigt Ehrlichkeit: zu sich und zu anderen. Selbstverleugnung, Verleugnung anderer, Verleugnung der Wahrheit ist unwürdiges Verhalten und schränkt die Seele in ihrem Wachstumsprozess ein. Solange wir Menschen uns nicht gegenseitig beim Wachstum unserer Seelenentwicklung und bei den, für den inneren Frieden förderlichen, Seelenerfahrungen unterstützen, sollten wir die Notbremse ziehen.
Seelenfrieden auf mehreren Ebenen
Das heißt laut Hüther, dass in Zeiten der Digitalisierung sich auch Arbeitsweisen verändern müssen, dass Menschen, die ihre Würde kennen, keine Hierarchien mehr akzeptieren können und dass Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, die im Einklang mit unserer Würde, stehen und unserer Seele Raum geben sich zu entfalten und zu wachsen. Der von Frithjof Bergmann geprägte „New Work“-Begriff bietet für dieses Ziel ein Fundament für mitmenschliche Arbeitsformen, die Menschen als Subjekte betrachten. Wenn man statt dessen im Job die eierlegende Wollmilchsau spielen muss, kann man sich selbst in Würde davon befreien indem man „nein“ sagt. Ganz egal wie hoch das Risiko ist, unsere Würde sollte stets über jedem Risiko stehen. Sonst wird unsere Seele krank – laut der Deutschen Depressionshilfe sind etwa 15 % aller Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische Erkrankungen zurückzuführen, innerhalb eines Jahrzehnts hat sich ihr Anteil verdreifacht. Die Pointe: Niemand muss sich gegen seine Würde verbiegen.
Würde schützt vor seelischen Schäden
Besonders nach seelischen Traumata kann es zur eigenen Lebensaufgabe werden die eigene Würde intensiver zu beschützen und somit den Schutzmantel um die verletzte Seele zu stärken. Viktor Frankl, Begründer der Existenzsnalyse und Logotherapie schützte im KZ seine Würde, indem er ein Ziel verfolgte: er lenkte sein Bewusstsein auf kleine Mitmenschlichkeiten, begann sich selbst und andere zu beobachten und machte sich Notizen dazu. Trotzdem seine Würde mit Füßen getreten wurde, hat er sie sich nicht nehmen lassen, indem er sich nicht vollständig zum Objekt hat machen lassen. Dieses Bewusstsein hat seine Seele gerettet und ihn vor schlimmen seelischen Folgeschäden, ja sogar dem Tod, bewahrt.
Dieses Beispiel zeigt, wie unsere Würde mit unserer Seele in Verbindung steht. Diese Verbindung, die nicht nur in der Stille und dem „Mit-Sich-Sein-Könnens“ etabliert wird, sondern auch indem man sich seiner Würde bewusst ist, schafft sowohl inneren Seelenfrieden als auch äußeren Frieden. Denn erst wenn wir unsere eigene Würde erkannt haben, können wir die Würde anderer erkennen.
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